Einführung in das Modell der Gesundheitspflege

Wozu ein neues Pflegemodell?

Brauchen wir Pflegemodelle? Manche halten sie für überflüssig.
In keinem Beruf ist es jedoch ohne theoretische Überlegungen möglich, gute Ergebnisse zu erzielen. Gerade in der Arbeit mit Menschen in schwierigen Lebenssituationen benötigen wir brauchbare Modelle.

Kann es überhaupt Pflege ohne Theorie geben? Die Schweizer Pflegewissenschaftlerin Dr. Dr. habil. Silvia Käppeli stellt fest (1988: 5):

Es gibt keine Pflegepraxis ohne Theorie, da es nicht möglich ist zu praktizieren, ohne zu denken.

Pflegende haben schon immer – bewusst oder unbewusst – nach theoretischen Vorstellungen gearbeitet. Diese unterschiedlichen Vorstellungen können wir uns bewusst machen und uns darüber austauschen.

Seit 1996 entwickelte ich für die Ausbildung und die praktische Arbeit in der Pflege ein neues Pflegemodell. In Abgrenzung zu traditionellen, medizinisch-pathogenetischen Ansätzen trägt es die Bezeichnung „Modell der Gesundheitspflege (MdG)“.

Was ist das Besondere an diesem Modell?

Schwerpunkt des Modells ist die beabsichtigte Wirkung von Pflege. Pflege wird als zwischenmenschliches Handeln (Interaktion) mit einer gesundheitswirksamen Zielrichtung verstanden.

Herkömmliche Vorstellungen von Pflege sind stark auf funktionale Defizite sowie auf die Kompensation ihrer Folgen gerichtet. Im Modell der Gesundheitspflege liegt die Betonung hingegen auf den Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen und ihrer gezielten Förderung durch kompetente Pflegende.

Mit anderen Worten: Nach dem Modell der Gesundheitspflege wollen Pflegekräfte nicht Gebrechlichkeit, Krankheit oder Behinderung ‚bekämpfen‘ oder kompensieren, sondern gesundheitsförderliche Entwicklungen von Menschen erkennen, anregen und wirksam unterstützen.

Der Hauptzweck des Modells der Gesundheitspflege: Pflegenden soll das Modell der Gesundheitspflege in erster Linie dazu dienen, die Entwicklung pflegebedürftiger Menschen hin zu einem zufriedenstellenden Niveau an Selbstständigkeit und Wohlbefinden in den Alltagsaktivitäten zu fördern.“ (Lay 2022a: 200)

Gesundheit aus pflegerischer Sicht

Das neue Pflegemodell hat einen professionellen Anspruch und betrachtet das Leben als einen gestaltbaren Entwicklungsprozess:

Nach dem Modell der Gesundheitspflege ist es das Ziel pflegerischen Handelns, die gegenwärtige und/oder zukünftige Gesundheit von Individuen und sozialen Gruppen (z. B. Familien) zu stärken.
Gesundheit definiere ich als zufriedenstellende Entfaltung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden in den Aktivitäten des Lebens.
So verstanden, ist Pflege wirksam, wenn es ihr durch gezielte Interaktion gelingt, die stets durch innere und äußere Faktoren gefährdete gesundheitliche Entfaltung von Individuen und sozialen Gruppen in den Aktivitäten des Lebens zu erhalten bzw. zu steigern.

Die von mir als Gesundheitspflege bezeichnete Pflege ist auch dann wirksam, wenn aus medizinischer Sicht keine Heilung möglich ist und daher auch keine Gesundheit im medizinischen Sinn erreicht werden kann. So ist es Pflegekräften auf Grund ihrer Ausbildung und ihrer Berufserfahrung möglich, auch sterbende Menschen gesundheitswirksam zu pflegen, indem sie ihre Selbstständigkeit und ihr Wohlbefinden fördern.“ (Lay 2022: 250)

Einflüsse auf die gesundheitliche Entwicklung

Trotz guter Pflege gibt es allerdings keine Erfolgsgarantie.
Nach dem Modell der Gesundheitspflege nehmen zahlreiche Faktoren Einfluss auf die gesundheitliche Entwicklung von Menschen. Sie wirken sich wesentlich auf die Erfolgschancen geplanter Pflege aus.“ (Lay 2022b: 131)

Unter diesen vielfältigen Einflüssen kann sich die gesundheitliche Verfassung von Menschen positiv oder negativ entwickeln: Menschen können sich gesundheitlich entfalten, aber auch zunehmende Einschränkungen erleben. Im Modell der Gesundheitspflege richtet sich der Blick nicht in erster Linie auf Einschränkungen und Defizite, sondern auf die Entwicklungschancen pflegebedürftiger Menschen.“ (Lay 2022b: 132)

Pflege ist Gesundheitsförderung

Pflegen ist mehr als bewahrendes Versorgen.
Pflege nach dem Modell der Gesundheitspflege nimmt gezielt Einfluss auf die gesundheitliche Entwicklung von Menschen. Sie ist Gesundheitsförderung, die in wichtigen menschlichen Entwicklungsfeldern wirksam wird.“ (Lay 2022b: 132)

Für welche Lebensbereiche ist Pflege zuständig?

Welche Entwicklungsfelder nehmen Pflegende in den Blick? Als Entwicklungs- bzw. Pflegeergebnismodell geht das Modell der Gesundheitspflege von 12 grundlegenden menschlichen Aktivitäten der Lebensgestaltung aus (Aktivitäten des Lebens, kurz: AL). Menschen entwickeln sich im Laufe ihres Lebens in folgenden AL (Lay 2004: 142):

      1. Kommunizieren und soziale Beziehungen gestalten
      2. Sich bewegen
      3. Vitale Funktionen aufrechterhalten
      4. Seinen Körper pflegen
      5. Sich kleiden
      6. Essen und trinken
      7. Ausscheiden
      8. Ruhen und schlafen
      9. Raum und Zeit gestalten
      10. Nach seiner geschlechtlichen Identität leben
      11. Für Sicherheit sorgen
      12. Sich orientieren in den Erfahrungen des Lebens

Menschen erleben und gestalten diese 12 Aktivitäten je nach Lebenssituation unterschiedlich selbstständig und in jeweils unterschiedlicher Befindlichkeit.

„Ob Menschen in Bezug auf diese Aktivitäten weitgehend selbst zurechtkommen (Frage der Selbstständigkeit) und wie es ihnen dabei geht (Frage des Wohlbefindens), ist gerade bei Pflegebedürftigkeit von entscheidender Bedeutung. Pflegende ermöglichen es Menschen, in ihrer individuellen Lebenssituation ein akzeptables Niveau an Selbstständigkeit und Wohlbefinden zu entwickeln. Aus der Perspektive des neuen Modells ist Pflege deshalb Gesundheitspflege.“ (Lay 2022b:132)

Neue Definition von Pflege

Daraus folgt eine neue Definition von Pflege:
Pflege ist gezieltes zwischenmenschliches Handeln (Interaktion) zur Förderung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden in den Aktivitäten des Lebens (Lay 2004: 144).

Gezielt pflegen – Pflegeprozesse gestalten

Selbstständigkeit und Wohlbefinden sind die zwei übergeordneten Zieldimensionen wirksamer Pflege. Entlang dieser Entwicklungslinien lässt sich Pflege planen und auswerten.“ (Lay 2022b:132)

Das Modell der Gesundheitspflege leitet dazu an, Einschränkungen und Ressourcen zu erkennen, den individuellen Pflegebedarf festzustellen, Schwerpunkte herausarbeiten, Hilfekapazitäten im privaten Umfeld zu berücksichtigen, geeignete Pflegeziele zu vereinbaren und konkrete Maßnahmen festzulegen (Lay 2022b: 134; Kreikenbaum & Lay 2022).

Die Pflege ist nach dem Modell der Gesundheitspflege in der Regel mit den betroffenen Menschen auszuhandeln. Sie zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass nach gezielter Einschätzung der Situation möglichst in enger Absprache mit den Klienten und ihren primären Bezugspersonen Entscheidungen darüber getroffen werden,

      • hinsichtlich welcher (aktuell oder potenziell eingeschränkter) Aktivitäten des Lebens (AL) Interventionsbedarf und Entwicklungschancen bestehen,
      • ob die Pflegekräfte in Absprache mit Klienten und Angehörigen eher Selbstständigkeit oder Wohlbefinden (oder beides gleichermaßen in einer sinnvollen Reihenfolge) fördern wollen,
      • welche konkreten Ergebnisse (Pflegeziele) anzustreben sind (Fortschritts- oder Erhaltungsziele),
      • welche Maßnahmen dazu geeignet erscheinen, wer sie durchführen wird (Klienten, Angehörige, Pflegekräfte etc.) und
      • wann die zwischenzeitliche Entwicklung zu evaluieren sein wird.“ (Lay 2022b: 133f)

Erfolgreich pflegen!

Gute Pflege wirkt sich positiv auf die gesundheitliche Entwicklung von Menschen aus. „Wirksame Pflege bedeutet erfolgreiche Gesundheitsförderung, d. h. Selbstständigkeit und Wohlbefinden der Klienten bleiben erhalten bzw. werden auf ein zufriedenstellendes Maß gesteigert (Erhaltungsziele und/oder Fortschrittsziele).“ (Lay 2022: 251)
Welche weiteren Kennzeichen guter Pflege kennen wir?

Was ist gute Pflege?

Pflege soll nicht nur wirksam sein, sondern Sicherheit vor Infektionen und anderen Gefahren bieten. Außerdem soll sie unter wirtschaftlichen Bedingungen erbracht werden und im zwischenmenschlichen Umgang in einer Art und Weise geschehen, die auch unter ethischen Gesichtspunkten vertretbar ist.

Gute Pflege setzt sich aus unterschiedlichen Bestandteilen zusammen (Komponenten). Pflegequalität können wir nicht anhand eines einzelnen Merkmals feststellen, sondern sie entsteht im Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Welche Aspekte heute als grundlegend angesehen werden können, zeigt die Abbildung „Komponenten der Pflegequalität“.

Die Abbildung „Komponenten der Pflegequalität“ wurde für die tägliche Arbeit in der Pflege entwickelt und ist das Herzstück des Modells der Gesundheitspflege. Im Pflegealltag hilft die Grafik, alle wichtigen Faktoren einer guten Pflege im Blick zu behalten. Sie eignet sich vor allem zur Reflexion der Pflegearbeit und hat sich als Instrument für Ausbildung und Personalentwicklung bewährt.

Zentrale Komponente der Pflegequalität ist die Pflegeethik (Lay 2022a: 199). „Innerhalb eines Interaktionsfeldes sind in Form eines Dreiecks um den zentralen Baustein Pflegeethik die drei Hauptkomponenten angeordnet: Wirksamkeit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit.“ (Lay 2022a: 197).

Die fünf Komponenten sollen kurz erläutert werden: Wirksamkeit, Sicherheit, Wirtschaftlichkeit, Interaktion und Pflegeethik.

„Unter Wirksamkeit verstehe ich erfolgreiche Gesundheitsförderung, d. h. Selbstständigkeit und Wohlbefinden der Klienten bleiben erhalten bzw. werden auf ein zufriedenstellendes Maß gesteigert (Erhaltungsziele und/oder Fortschrittsziele, vgl. Kreikenbaum & Lay 2022).

Sicherheit für Klienten, Mitarbeiter und andere Beteiligte wird durch Hygiene (z. B. Infektionsprävention, Psychohygiene, Vertrauensaufbau) und das Beachten der anerkannten Sicherheitsbestimmungen gewährleistet (z. B. Brandschutzvorschriften, Regeln zu deeskalierendem Vorgehen, Anweisungen zum Umgang mit Schlüsseln oder Zugangschips, Unfallverhütungsvorschriften und andere Arbeitsschutzbestimmungen, Datenschutzbestimmungen, Umweltschutzbestimmungen).

Wirtschaftlichkeit wird durch bewusstes Aufwenden von Arbeitszeit und -material erreicht. Hierzu zählen u. a. der gezielte Personaleinsatz, die zugleich verlässliche und flexible Arbeitsplanung sowie der zweckmäßige Gebrauch bzw. Verbrauch von notwendigem Sachbedarf.

Interaktion weist auf die Qualität des zwischenmenschlichen Handelns hin (kommunikative Kompetenz, Beziehungsgestaltung, Vertrauensaufbau, Kooperations- und Koordinationsvermögen, Reaktion auf Schwierigkeiten, Öffentlichkeitswirkung). Eine gelungene Interaktion ist die Voraussetzung dafür, sicher, wirksam, wirtschaftlich und ethisch vertretbar pflegen zu können.“ (Lay 2022a: 198f)

Pflegeethik: Hier wird reflektiert, ob die geleistete Pflege ethisch vertretbar ist: Erfassen der moralischen Aspekte der Situation, Kennenlernen der moralischen Überzeugungen der Beteiligten (insbesondere jene der betreffenden gepflegten Menschen), Ermitteln der Handlungsabsichten, Abwägen der wahrscheinlichen Handlungsfolgen, Übereinstimmung des Handelns mit ethischen Prinzipien der Pflege, z. B. Förderung von Wohlergehen / Wohlbefinden und Autonomie / Selbstständigkeit, Achtung vor dem Leben und der Menschenwürde, Verständigung im Dialog, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit (vgl. Lay & Needham 2023:184)

Neue Definition von Pflegequalität

Aus dem Teilmodell „Komponenten der Pflegequalität“ leite ich eine neue Definition von Pflegequalität ab:

Pflegequalität gibt den Grad der Verwirklichung von pflegerischen Zielen an, die sich auf die Förderung bzw. Erhaltung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden der Klienten beziehen und mit verantwortlichem zwischenmenschlichen Umgang und vertretbarem Einsatz von Mitteln angestrebt werden.“ (Lay 2022a: 304)

Fazit: Ein nützliches Modell

Für eine gute Pflege hat sich das Modell der Gesundheitspflege (MdG) als sehr nützlich erwiesen. Der Kommunikationswissenschaftler Prof. Friedemann Schulz von Thun (2016: 189), auf den zahlreiche praktische Kommunikationsmodelle zurückgehen, beschreibt Sinn und Zweck von praxistauglichen Modellen:

Modelle „[…] sind vereinfachte, komplexitätsreduzierende, aber das Wesentliche hervorhebende Abbilder der Wirklichkeit zwecks verständlicher Didaktik und praktischer Handhabbarkeit. Sie haben nicht die Aufgabe, Zusammenhänge ursächlich zu erklären, sondern sichtbar und ‚griffig‘ zu machen.
Sie sind für den Praktiker, damit er sich in einem Gegenstandsbereich zu orientieren vermag. Vielleicht gelingt es den Modellen auch, ihm die Augen zu öffnen, sodass er bestimmte Aspekte in der Wirklichkeit deutlicher wahrnimmt, als wenn er nicht durch das Modell auf diese Dinge gestoßen würde
.“

So weit die kurze Einführung in das Modell der Gesundheitspflege.
Am besten probieren Sie das Modell einfach mal aus! Ich wünsche Ihnen dabei viel Freude und Erfolg.

Sie haben Lust und Interesse, mehr zu erfahren?

 

Zitierte Quellen dieses Textes:

Käppeli, Silvia:
Pflege und Pflegetheorien.
In: Krankenpflege, Heft 1/1988, S. 5-8

Kreikenbaum, Jens; Lay, Reinhard:
Pflegeplanung leicht gemacht – Pflegeprozesssteuerung im Pflegealltag.
9. Aufl. , Elsevier – Urban & Fischer Verlag, München 2022

Lay, Reinhard:
Ethik in der Pflege. Ein Lehrbuch für die Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover 2004

Lay, Reinhard:
Ethik in der Pflege. Das Lehrbuch für alle Bereiche der Pflege.
3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Schlütersche Fachmedien, Hannover 2022a, gebunden, 562 Seiten

Lay, Reinhard:
Modell der Gesundheitspflege (MdG).
In: Jens Kreikenbaum; Reinhard Lay: Pflegeplanung leicht gemacht – Pflegeprozesssteuerung im Pflegealltag. 9. Aufl. , Elsevier – Urban & Fischer Verlag, München 2022b, S. 131-135

Lay, Reinhard; Needham, Ian:
Ethik.
In: Sauter, Dorothea; Needham, Ian; Abderhalden, Christoph; Wolff, Stephan (Hrsg.), unter Mitarbeit von Reinhard Lay u. a.: Lehrbuch Psychiatrische Pflege. 4., überarb. u. erw. Aufl., Verlag Hogrefe, Bern 2023, S. 172-186

Schulz von Thun, Friedemann:
Miteinander reden, Band 4: Fragen und Antworten.
7. Aufl., Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2016

 

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